Die Saat der Gemeinschaft

Nachts hört man die Hubschrauber. Ansonsten wirkt es idyllisch hier, in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak: die Bergschluchten und Wasserfälle, das fruchtbare Land. Dabei sind ganze Bergketten schon nicht mehr zugänglich. Die Kampfzone ist in Amedi, zehn Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, nahe an die Dörfer gerückt. In den Kandil-Bergen halten sich die PKK-Kämpfer vor türkischen Angriffen versteckt.

Nur noch 15 Familien leben in einem kleinen Dorf nahe Amedi, das ich vor einigen Monaten besucht habe. 1988 wurde es bei den Anfal-Operationen gegen die kurdische Bevölkerung unter Saddam Hussein zerstört. Nach der Zerstörung flohen viele irakische Kurd:innen in die Türkei oder den Iran. Einige kehrten nach Einrichtung der Flugverbotszone der Vereinten Nationen 1991 zurück. 1995 baute eine französische Hilfsorganisation das Dorf etwas entfernt vom Hang wieder auf. Doch die aktuellen Angriffe gegen PKK-Kämpfer:innen schlagen oft gefährlich nahe ein. Die ständigen Kampfhandlungen, die Verminung des bergigen Geländes und die Armut auf dem Land vertreiben bis heute die meisten Menschen.

Safin* ist einer, der geblieben ist. Er liebt seine Heimat und ist der Schönheit der Landschaft, dem bäuerlichen Leben verbunden. In den Gärten seiner Familie wachsen Tomaten, Gurken, Auberginen, Wassermelonen, Äpfel, Trauben und Walnüsse auf Ackerboden, der nur mit Tierdung genährt wird. Doch noch können Safin, seine Eltern und die fünf Geschwister von der Landwirtschaft nicht leben.

Safin ist seit drei Jahren Mitglied eines regionalen Netzwerks, das versucht, nach solidarischen und nachhaltigen Grundsätzen Landwirtschaft zu betreiben. Bei Guez u Nakhl (Walnuss und Palme) tauschen irakisch-kurdische und irakische Landwirt:innen alte mesopotamische Saatgutsorten aus. Sie lernen gemeinsam, das Saatgut zu extrahieren, Kompost anzulegen und natürlich zu düngen.

Nähe zur Natur, lokale Kontrolle der Ressourcen und direkte lokale Vermarktung der Waren sind die Leitlinien der Ernährungssouveränität. Im Gegensatz zum Agrarkapitalismus, der in die natürlichen Kreisläufe eingreift und die Interessen großer Konzerne verfolgt, sollen bei der Ernährungssouveränität der Mensch, die natürlichen Ressourcen und die Kreisläufe seines Umfelds im Vordergrund stehen. Doch bislang träumt Safin noch von alldem.

Globale Verflechtungen und Abhängigkeiten, die Folgen von Kriegen und Sanktionen sowie dramatische Klimaveränderungen bei Temperaturen von bis zu 50 Grad im Sommer machen es Kleinbäuer:innen im Irak nicht leicht. Außerdem fehlt es an staatlicher Politik, die sie unterstützt, und zwar schon lange: "Die gezielte Kontrolle und Schwächung der bäuerlichen Strukturen hat im Land Geschichte und ist ein Prinzip seit der Kolonialzeit", erzählte die Politologin Dr. Schluwa Sama, die sich mit den Auswirkungen von kolonialer und staatlicher Politik auf die Landwirtschaft beschäftigt, vor ein paar Monaten bei Guez u Nakhl. 

Auch Deutschland hatte Ambitionen, sich an der Ausbeutung irakischer Rohstoffe zu beteiligen, als es 1903, damals noch im Osmanischen Reich, federführend den Ausbau einer Eisenbahnstrecke von Konya nach Bagdad für den Transport von Öl und anderen Rohstoffen überwachte. Die Strecke wurde 37 Jahre später fertiggestellt, und man erhoffte sich Zugang zum Markt eines Landes, das 1930 weltweit als Kornkammer galt.

Erste strukturelle Veränderungen gehen bereits auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Während des britischen Kolonialismus wurde den religiösen Scheichs im Irak mehr Autorität zugesprochen, sie konnten Land in ihrem Namen registrieren und so Profit erwirtschaften. Damit war der Grundstein für die Ausbildung autoritärer Strukturen gelegt, sagt Sama: Gegen Ende der kolonialen Herrschaft besaß ein Prozent der Bevölkerung 55 Prozent des Landes.

Unter der Baath-Partei und Saddam Hussein wurde die landwirtschaftliche Regulierung dann zu einem zentralen Instrument für die Kontrolle der Bevölkerung. Die Bäuer:innen aus den entlegenen, schwer zugänglichen kurdischen Bergdörfern wurden aus wirtschaftlichen und politischen Gründen umgesiedelt und nahe den Machtzentren wieder angesiedelt. Sie sollten den irakischen Staat mit ihren Produkten versorgen – und mussten liefern, was ihnen aufgetragen wurde. Das Dorf von Safin etwa war in dieser Zeit gezwungen, Tabak zu produzieren.  
 

Die Oil-for-Food-Politik von 1997, die die humanitären Auswirkungen der wirtschaftlichen Sanktionen auf die Bevölkerung hatte abfedern sollen, versetzte der lokalen Landwirtschaft schließlich den Todesstoß. Anstatt die lokale Nahrungsmittelproduktion zu stärken, wurde der Irak mit westlicher Überschussware überschwemmt. Dadurch veränderte sich unter anderem die Esskultur im Land. Statt des einheimischen Reises gab es nun Reis aus Australien und massenweise eine Kartoffelsorte, zu deren Herkunft heute niemand mehr etwas sagen kann. 
 

Mit der US-Invasion von 2003 wurde zudem die Privatisierung der irakischen Landwirtschaft vorangetrieben, die Landwirt:innen verloren die Autonomie über das Saatgut. Die Zerstörung der nationalen Saatenbank, die sich in Abu Ghraib, einem Vorort von Bagdad, befand, hatte zur Folge, dass Landwirt:innen der Zugang zu alten lokalen Saatgutsorten genommen wurde und sie stattdessen auf importiertes Saatgut ausweichen mussten. Damit wurden sie abhängig von multinationalen Konzernen, über die sie nun hybride und genmanipulierte Sorten beziehen. Bis heute ist es schwer, die ursprünglichen lokalen Sorten zu finden. Nur ältere Menschen auf den Dörfern haben zum Teil noch Zugang. Safin wünscht sich, dass der Austausch mit ihnen größere Unabhängigkeit vom Markt und damit eine selbstbestimmtere Landwirtschaft ermöglichen könnte.

Dass sich die kleinbäuerliche Landwirtschaft trotz jahrelanger Sanktionen, Jahrzehnten der bewaffneten Konflikte, Klimawandel, Misswirtschaft und Korruption erhalten konnte, spricht für ihre Widerständigkeit. Trotz großer Herausforderungen stellen Kleinbäuer:innen im Irak etwa 70 Prozent der Lebensmittelproduktion, auch wenn heute nur noch etwa 20 Prozent von ihnen in der Landwirtschaft beschäftigt sind, in Irakisch-Kurdistan sollen es sogar nur noch sechs sein.

Eine der größten Herausforderungen sieht Safin in der Vermarktung seiner Waren. Noch gibt es keine Möglichkeit für ihn, sein Obst und Gemüse direkt an die Konsument:innen zu verkaufen. Dafür fehlen die notwendigen Strukturen, und die Wege in die umliegenden Städte sind weit. Tatsächlich sind es in erster Linie fehlender Zugang zu lokalen Märkten und fehlende staatliche Unterstützung, die ihm und anderen Kleinbäuer:innen das Leben schwer machen, nicht mangelnde Produktivität oder Kompetenz. Geschmacklich sind Safins biologisch-organische, aus alten Saatgutsorten gezüchtete Tomaten kaum zu überbieten. Für ihn und seine Familie ist es jedoch unmöglich, mit den viel günstigeren subventionierten Produkten aus dem Iran oder der Türkei zu konkurrieren – in den Geschäften von Amedi finden sich auch heute importierte Milch und Tomaten.

Das Netzwerk Guez u Nakhl arbeitet daran, eine direkte lokale Vermarktung zu entwickeln. Außerdem wollen sie wieder lokale Saatenbanken anlegen. Leicht ist das nicht. Denn die hybriden und genmanipulierten Sorten, die im Supermarkt verkauft werden, sind beliebt, die Leute seien an sie gewöhnt worden, sagt Safin. "Darüber hinaus ist es schwierig, die Bestäubung zu unterbinden, wenn im Nachbargarten andere Tomatensorten angebaut werden. Dabei sind es die alten einheimischen Sorten, die die Temperaturen und den Boden hier kennen und damit die besten Überlebenschancen haben."

Safin schätzt es, dass irakische Kurd:innen und Iraker:innen sich im Netzwerk gemeinsam Wissen über solidarische Landwirtschaft erschließen und zusammen neue Ideen entwickeln – trotz der Sprachbarrieren, denn die jüngere Generation in den kurdischen Gebieten spricht kaum noch Arabisch. So kommt ihre Arbeit nicht nur einer gesunden Landwirtschaft zugute. Sie hilft auch, politische Gräben zu überwinden und Freundschaften zu schließen.

*Name von der Redaktion geändert