Die Geschichte der Vermissten erzählen
Verschiedenen Narrative spalten die libanesische Gesellschaft. Ein Gespräch mit dem Autor Pierre Jarawan.
Hanna Voß: Pierre Jarawan, das letzte Mal in Beirut waren Sie im Jahr 2019. Seitdem hat sich viel verändert, die schlimmste Wirtschaftskrise in seiner Geschichte hat das Land getroffen, Corona hat den Libanon lahmgelegt, eine Explosion am 4. August 2020 Beirut erschüttert. Welche Veränderung ist Ihnen ganz persönlich am stärksten aufgefallen?
Pierre Jarawan: Ich kenne den Libanon gut, ich war seit meiner Kindheit jedes Jahr den ganzen Sommer lang dort. Mir war deshalb auch immer klar, wie solche Prozesse funktionieren, also wie schnell auch Verfall hier passiert. Und doch finde ich es wirklich bedrückend, wie anders es geworden ist. Die ganze Stadt ist dunkler und stiller geworden.
Apropos Stille: In ihrem ersten Buch «Am Ende bleiben die Zedern» geht es um die Stille in einer Familie, in der die Eltern den Libanon während der Bürgerkriegsjahre verließen und nach Deutschland gingen. Der Vater verschwindet schließlich spurlos und ohne ein einziges Wort. Jahre später macht der Sohn sich auf die Suche nach ihm. Das Verschwinden hat mit dem Bürgerkrieg zu tun, über den der Vater nie gesprochen hat. Auch, wenn diese Geschichte frei erfunden ist, gibt es Parallelen zu ihrem Leben, nicht wahr?
Ja, auch mein Vater ist Libanese, meine Mutter allerdings Deutsche. Die beiden lernten sich 1982 in Beirut kennen, 1983 verließen sie den Libanon, gingen nach Saudi-Arabien und Jordanien, wo ich geboren wurde. 1989 gelangten sie schließlich nach Deutschland. Mein Vater hat nie über seine Erfahrungen im Bürgerkrieg gesprochen. Meine Mutter viel eher, sie hatte den Abstand dadurch, dass sie Deutsche war und immer gehen konnte. Mein Vater dagegen schweigt über diesen Teil seines Lebens konsequent bis heute.
Wie ist er damit umgegangen, wenn er darauf angesprochen wurde, zum Beispiel von Ihnen als Kind?
Seine bevorzugte Strategie war und ist: Witze machen, es ins Lächerliche ziehen, um dann das Thema zu wechseln.
Ihr Vater stammte aus Zahlé, einer sehr christlichen Gegend, die im Verlauf des Krieges zum Zufluchtsort für Anhänger der radikalen Lebanese Forces wurden, die nach einem innerparteilichen Coup fliehen mussten. Hat es für Ihren Vater eine Rolle gespielt, Christ zu sein?
Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich meinen Vater sagen hören: «Wir Christen mussten uns ja verteidigen». Da gab es plötzlich ein Wir, das vorher nie existierte. Das Christentum oder Religion allgemein spielte in unserer Familie keine Rolle. Natürlich haben wir Weihnachten gefeiert, aber es hatte keine identitätsstiftende Funktion, und auch ich bezeichne mich nicht als religiös.
Und doch repräsentiert Brahim, der Vater aus Ihrem Roman, die libanesische Gesellschaft auf vielerlei Weise. Eine konfessionelle Gruppe, nicht der Staat, schafft Identität, selbst wenn man nicht religiös ist, selbst wenn man ihre Regeln nicht befolgt, nicht einmal an sie glaubt.
Ganz genau. Brahim ist ein Geschichtenerzähler, allerdings dienen seine Geschichten auch der Verschleierung von Wahrheit. Analog dazu hat im Libanon jede Gruppe ihr eigenes Narrativ, was im Bürgerkrieg passierte. Die Handlung meines ersten Buchs ist fiktiv, allerdings gibt es doch eine Analogie zu mir persönlich, nämlich in der Wandlung die Samir, der Hauptcharakter, durchmacht: von der Idealisierung des Libanon als Kind, hin zur späteren Realisierung, dass es vieles gibt, was falsch läuft.
Diese vielen verschiedenen Narrative spalten die libanesische Gesellschaft bis heute. Es gibt keine gemeinsame Erzählung vom Bürgerkrieg, er taucht in Geschichtsbüchern nicht auf, was ein großes Problem darstellt.
Fast alle Probleme, die heute bestehen, gehen auf diese Uneinigkeit und auf die Abwesenheit einer gemeinsamen Erzählung zurück, das stimmt. Schuldzuweisungen und Opfergeschichten werden in den jeweiligen Gemeinschaften gepflegt, und auch das hat zum politischen Überleben und zur teilweisen Idealisierung von Persönlichkeiten geführt, die direkt am Krieg beteiligt waren. Wie man die Geschichte des Bürgerkriegs erzählt, hängt stark davon ab, in welche Gemeinschaft man hineingeboren wird, und in letzter Konsequenz ist das eine Tragödie, denn inzwischen ist eine ganze Nachkriegsgeneration ohne ein einheitliches Bewusstsein für die jüngere Geschichte herangewachsen. Gleichzeitig aber, und das ist das Paradoxe, findet man hier die vielleicht authentischste Form von Geschichtsschreibung vor.
Inwiefern?
Dadurch, dass es hier nie Sieger und Besiegte gegeben hat, hat sich auch kein Narrativ letztendlich durchgesetzt. Es gibt eine Koexistenz von Erzählungen, ohne Endgültigkeit. Schuld funktioniert nicht ohne Unschuld und umgekehrt. In gewisser Weise sind all diese Erzählungen somit gleichzeitig wahr und unwahr. Für mich ist das ein authentisches Merkmal von Geschichte.
Die libanesische Gesellschaft separiert sich auch heute noch entlang von Erinnerungslinien, die ein Ausdruck der Konflikte sind, die unter der Oberfläche brodeln und oftmals die gleichen sind wie zu Kriegszeiten.
Genau. In letzter Konsequenz müssten diese Narrative also irgendwie transformiert werden. Sie müssten als solche anerkannt werden, auch in ihrer Gleichberechtigung, um daraus Konsequenzen ziehen zu können. Wie diese Konsequenz oder Lösung allerdings aussehen kann, ist die große Frage.
Eine der vielen unbeantworteten Fragen ist die der im Bürgerkrieg Verwundenen, mit denen sich Ihr zweites Buch «Ein Lied für die Vermissten» befasst. Was hat Sie veranlasst, darüber zu schreiben?
Ich bin auf dieses Thema schon während der Recherche zu meinem ersten Buch gestoßen. Ich habe allerdings schnell festgestellt, dass es zu groß ist, um noch Teil des ersten Romans zu werden. Ich wollte das Thema so erzählen, dass es universell lesbar ist: Was macht Schweigen mit Gesellschaften, Freundschaften, Familien? Das sind Fragen, die wir in uns Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ja auch gestellt haben, die Aufarbeitung hat nicht vor dem Ende der 1960er Jahre begonnen.
Wie sind Sie bei Ihrer Recherche vorgegangen?
Ich habe die Angehörigen über das Internationale Rote Kreuz gefunden. Die meisten während des Bürgerkriegs Verschwundenen wurden bei Massakern oder Kämpfen getötet, viele einfach ins Meer geworden oder irgendwo verscharrt. Der Großteil war gerade zwischen 15 und 19 Jahre alt, weil das die Alterskohorte war, aus der die Milizen ihre Kämpfer rekrutierten.
Was haben Ihnen diese Angehörigen erzählt?
Die – oftmals – Frauen warten seit 40 Jahren darauf, dass ihre Söhne, Männer und Brüder zurückkehren. Sie können sich mit dem Schicksal nicht abfinden. Bei jedem Klingeln an der Tür, bei jedem Rattern des Fahrstuhls denken sie, dass er endlich wiedergekommen ist. Das hört nie auf, solange diesen Frauen keine Anerkennung zuteilwird. Deshalb ist es für eine Gesellschaft unbedingt notwendig, dass sie ihre Vermissten als kollektive Leerstelle anerkennt, ihre Abwesenheit zur Kenntnis nimmt.
Was meinen Sie mit Anerkennung?
Ich spreche nicht von einer juristischen Aufarbeitung, diese Illusion mache ich mir nicht. Es ist utopisch anzunehmen, dass etwa die Massengräber im Libanon geöffnet werden, doch es muss offiziell anerkannt werden, dass es diese Leerstelle in der Geschichte des Landes gibt. Solange dieses Bedürfnis an den Rand gedrängt wird, werden die Hinterbliebenen an den Rand gedrängt. So kann keine Heilung beginnen.
Im Libanon hat es nach dem Ende des Bürgerkriegs Generalamnestien gegeben…
… ein Skandal und eine Verlängerung der Tragödie. Aber gleichzeitig gibt es heute – zwar nicht im Libanon, aber in gewissen Organisationen – juristische Debatten darüber, ob jene überhaupt rechtens oder womöglich unwirksam sind, da das Verschwindenlassen von Menschen ein Verbrechen ist, dass auf eine Art noch immer andauert, nämlich ein Verbrechen an den Angehörigen. Die offizielle Zahl der Verschwundenen im Bürgerkrieg liegt bei 17.000, die Dunkelziffer liegt vermutlich höher. Heute gibt es auch eine offizielle Zahl zu den Todesopfern der Hafenexplosion, die unter der liegt, die andere Stellen recherchiert haben. Wieder sprechen wir also von Vermissten, deren Schicksal nicht anerkannt wird. Diese zyklische Wiederholung von Trauma zersetzt eine Gesellschaft, und es profitieren nur die Verbrecher, die heute die gleichen sind wie seit Jahrzehnten.
Was wünschen Sie sich?
Einer der zentralen Sätze in Ein Lied für die Vermissten lautet: «Das Erzählen kann nichts von dem, was verloren ist, zurückholen. Aber es kann das Verlorene erfahrbar machen.» Es geht mir, wie gesagt, nicht um juristische Konsequenz, sondern genau darum: Dass die Geschichte der Vermissten erzählt wird, und dadurch – hoffentlich – erfahrbar bleibt.