Al-Dschulani, die HTS und die Zukunft Syriens
Rebellenführer; der neue starke Mann in Syrien; Islamistenführer; Ex-Terrorist oder Dschihadist: Das sind nur einige der Etiketten, die Ahmad Al-Schara alias Al-Dschulani in den letzten Tagen und Wochen angeheftet wurden, als es seiner Rebellengruppe Hai’at Tahrir al-Sham (Komitee zur Befreiung Syriens, kurz HTS) völlig überraschend gelang, das Assad-Regime zu stürzen. Von ihrer Hochburg, dem Bezirk Idlib im Nordwesten Syriens, konnten die Kämpfer in rasantem Tempo in nur wenigen Tagen bis nach Damaskus vorstoßen. So schnell, dass Baschar Al-Assad und seine engsten Getreuen nach über 50 Jahren Assad-Diktatur überstürzt das Land verließen. Der Rest ist Geschichte – und ungewisser Neubeginn.
Der Gründer und Anführer der HTS wurde spätestens Anfang Dezember einer größeren Öffentlichkeit unter seinem «Kampfnamen», Abu Mohammed Al-Dschulani, bekannt. Doch nach seiner Ankunft in Damaskus hat er diesen Kampfnamen abgelegt und benutzt jetzt seinen bürgerlichen Namen: Ahmad Hussein Al-Schara. Das soll symbolisieren: Die Zeit des Kampfes ist vorbei, jetzt geht es um zivile, um politische Belange, um den Neuaufbau Syriens. Und Al-Schara will mit seiner HTS eine wichtige Rolle dabei spielen. Nach dem unerwarteten Erfolg der Gruppe wird das auch kaum in Frage gestellt.
Allerdings gibt es in und außerhalb Syriens Skepsis angesichts der ideologischen Ziele der Gruppe und auch seiner ganz persönlichen Agenda. Schließlich ist Al-Schara, wie die meisten seiner Mitstreiter, bekennender Islamist. Dass er sich inzwischen moderater gibt, lindert die Sorgen vieler Minderheiten, Liberaler und Frauen kaum. Welche Rolle spielt der Mann mit dem mittlerweile akkurat gestutzten schwarzen Bart, dem Markenzeichen der Salafisten, und der religiös gefärbten Sprache? Wie verlässlich sind seine Beteuerungen, er wolle nicht die Interessen des politischen Islam, sondern die aller Syrer*innen vertreten?
Die HTS und die syrische Opposition
Der Sturz Assads war für die meisten Syrer*innen ein unfassbarer Freudentag, weil plötzlich die Foltergefängnisse offenstanden, in denen mehr als hunderttausend Oppositionelle verschwunden waren; weil die Angst vor diesem diktatorischen Regime jetzt verflogen ist; weil viele Syrer*innen zum Ausdruck brachten, dass sie über Nacht von Flüchtlingen wieder zu Bürger*innen geworden sind.
Der Sturz Assads ist aber nicht das alleinige Verdienst Al-Scharas und seiner HTS. Während des Vormarschs war die HTS zwar die größte und effektivste Gruppe, aber auch von Süden drangen bewaffnete Aufständische vor, die ebenfalls seit Jahren auf ein Ende des Assad-Regimes hingearbeitet hatten. Der Fall Assads ist also das Ergebnis eines breiten Bündnisses und einer weitgehenden Abwendung vom Regime, zuletzt sogar von dessen eigenen Unterstützer*innen. So konnte nach Jahren der Gewalt ein weitgehend unblutiger Machtwechsel stattfinden.
Im Laufe des 2011 begonnenen Aufstands und dessen brutaler, von Russland und Iran unterstützter Niederschlagung durch das Assad-Regime wurde die Region Idlib zu einem der letzten Zufluchtsorte der Opposition. Beteiligte mehrerer gescheiterter Aufstände aus anderen Regionen wurden hierhin transportiert, die Bevölkerung verdoppelte sich auf über vier Millionen Menschen. Hier sammelten sich verschiedene islamistische Aufstandsgruppen, die miteinander konkurrierten. Das führte zu massiven Angriffen der russischen und syrischen Streitkräfte auf die Provinz, in der neben den Kämpfern vor allem Zivilist*innen leben. Die Versorgungslage für die Bevölkerung war zwischenzeitlich verheerend. Nach einem ersten Abkommen zwischen Russland und der Türkei wurde 2018 zwar eine demilitarisierte Zone geschaffen, doch die Kämpfe gingen weiter, bis 2020 ein dauerhafter Waffenstillstand geschlossen wurde. Seitdem setzte sich Al-Scharas HTS Schritt für Schritt durch.
Der syrische Politikwissenschaftler Haid Haid, Experte bei der britischen Denkfabrik Chatam House, führt das auf ihre pragmatische Agenda und eine Strategie aus «Geduld, Zwang und Überzeugungskraft» zurück. Diese Strategie habe die Gruppe – je nachdem, wo sie operierte – immer wieder flexibel angepasst.
Bereits in dieser Phase bemühte sich Al-Schara um ein moderates Image und bekannte sich zu einer ausschließlich syrischen Agenda, dem Sturz Assads und einem politischen Neuanfang. Die Dokumentation «The Jihadist», in der er dem US-amerikanischen Sender PBS 2021 Rede und Antwort stand, zeigt eindringlich, wie er sein neues Image bereits damals nach außen tragen wollte. Gleichzeitig investierte er mit seiner HTS viel Energie in den Aufbau einer funktionierenden Verwaltung; seit 2017 regierte unter dieser in Idlib offiziell die «Syrische Heilsregierung» mit einem Ministerpräsidenten und elf Ministern. Das machte sich bald auch in einer deutlich besseren Versorgungslage in der Provinz bemerkbar.
Gleichzeitig ging die HTS mit harter Hand gegen islamistische und dschihadistische Gruppen vor, die Syrien als Zentrum ihres Kampfes für einen «globalen Dschihad» begriffen. Der «Islamische Staat» (IS) beschuldigte die HTS im Juli 2023, ihren Anführer Abu Hussein al-Husseini al-Qurashi getötet zu haben. Dieser maßgeblich von Al-Schara geprägte Kurs war angesichts dessen Vergangenheit alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Terroristische Vergangenheit
Der 1982 in Riad geborene Al-Schara wuchs als Sohn syrischer Eltern zunächst in Saudi-Arabien, später dann in Damaskus auf. Als junger Mann radikalisierte er sich während der blutigen zweiten Intifada, als die israelische Regierung auf palästinensische Selbstmordattentate mit brutaler Gewalt antwortete. Auch der 11. September 2001 prägte ihn. Unter seinem Kampfnamen Al-Dschulani schloss er sich 2003 Al-Qaida an, die mit terroristischen Anschlägen gegen die US-amerikanische Besatzung des Iraks kämpfte. Dort saß er unter anderen in den berüchtigten Gefängnissen Camp Bucca und Abu Ghraib, die damals zu Brutstätten der noch radikaleren «Daesh» (ISIS, später IS) wurden. Dort lernte er auch deren Gründer und später selbst erklärten «Kalifen» Abu Bakr al-Baghdadi kennen.
Als er 2011 freikam, hatte der syrische Aufstand gegen Assad gerade begonnen, und Al-Schara wurde Anführer des syrischen Al-Qaida-Ablegers, der «Nusra-Front», die sich von Anfang an dem Kampf gegen die syrische Armee Baschar al-Assads anschloss. 2013 setzten die USA ihn auf ihre Terrorliste und lobten später sogar ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen für Hinweise zu seiner Ergreifung aus. Im Januar 2017 gründete er mit der HTS ein neues Bündnis verschiedener islamistischer Milizen, das sich dezidiert von der dschihadistischen Al-Qaida und ihrem Ziel eines globalen Dschihads gegen den Westen lossagte.
Doch nur wenige Monate später übernahm die Organisation die Verantwortung für einen Terroranschlag auf schiitische Pilger in Damaskus, bei dem über 40 Menschen getötet wurden. Dies sei eine «Botschaft an den Iran», den – neben Russland – wichtigsten Verbündeten des Assad-Regimes und bei sunnitischen Radikalen verhassten schiitischen Staat. 2018 wurde dann auch die HTS von den Vereinigten Staaten als terroristische Vereinigung eingestuft, die Vereinten Nationen folgten. Ihr wurden auch in den Folgejahren, unter anderem von Human Rights Watch, immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Oppositionelle, Frauen und religiöse Minderheiten vorgeworfen; es kam auch zu groß angelegten Protesten gegen die HTS und ihren Anführer.
Die Machtübernahme in Damaskus
Auch jetzt, nach dem Sturz Assads durch die HTS, fehlt es an Vertrauen, vor allem aufseiten der syrischen Minderheiten. Die syrisch-kurdische Regionalregierung, die sich mit Präsident Assad arrangiert hatte, befürchtet unter der HTS und der mit dieser verbündeten, von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) eine anti-kurdische Politik oder sogar eine direkte Konfrontation. Drus*innen und Schiit*innen sorgen sich als «Ungläubige», Alawit*innen als Verbündete Assads verfolgt zu werden. Tausende Schiit*innen sollen Syrien bereits in Richtung Libanon verlassen haben.
Doch Al-Schara wiederholt beständig, dass er die Minderheiten und die Rechte aller Syrer*innen achten werde. Noch zu Beginn der Offensive auf Aleppo gab er «Empfehlungen an seine Soldaten» heraus. Darin heißt es: «Aleppo war und ist eine Stadt an der Schnittstelle der Zivilisationen und Kulturen […]. Sie gehört zum Erbe aller Syrer.» Im Gespräch mit CNN bekräftigte er während des Vormarsches auf Damaskus, dass er sich für ein System einsetze, das die Rechte aller schütze. Er spielte die Rolle der HTS herunter; da sie nur dem Sturz des Regimes diene, könne sie danach auch aufgelöst werden zugunsten der Schaffung neuer Institutionen des Staates. Erneut wies er den Vorwurf des Terrorismus weit von sich: «Ein Terrorist ist jemand, der vorsätzlich Zivilisten tötet, verletzt oder vertreibt» – doch dessen habe sich nicht die HTS, sondern das syrische Regime schuldig gemacht.
Tatsächlich kam es bei dem rasanten Vormarsch auf Damaskus nicht zu Racheakten oder Gewalttaten. In seiner ersten Rede in Damaskus trat Al-Schara ebenfalls mäßigend auf und mahnte den Übergang vom Kampf zum Aufbau der Institutionen an. Doch er sagte auch: «Dieser Sieg bedeutet ein neues Kapitel in der Geschichte des Islam». Und der Ort seiner Rede war hochgradig symbolträchtig: die Umayyaden-Moschee in Damaskus, eine der wichtigsten Moscheen der arabischen Welt, erbaut unter der ersten langjährigen Dynastie der Umayyaden (661-750 u.Z.), die Damaskus einst eine Blütezeit beschert hatte.
Bei seinen öffentlichen Auftritten und den ersten Kabinettssitzungen in Damaskus war neben der neuen Nationalflagge – die grün-weiß-rote Fahne der Unabhängigkeit von 1921 mit den drei roten Sternen, welche die Opposition seit 2011 benutzte – noch eine weitere Flagge zu sehen, nämlich eine Fahne mit dem islamischen Glaubensbekenntnis in Schwarz auf weißen Grund. Für viele handelt es sich um ein inakzeptables islamistisches Symbol, das der Fahne Al-Qaidas gleicht, die dasselbe Motiv zeigt, allerdings in Weiß auf schwarzem Grund.
Gemäßigter Islamismus oder neuer Autoritarismus?
Es sind daher bisher weniger die Worte und ersten Amtshandlungen, als solche Gesten, die die Skepsis bei manchen Beobachter*innen wachsen lassen. Heiko Wimmen, Experte bei der «International Crisis Group», sieht es als zentral an, dass gleich zu Beginn ein «Versuch der Inklusion» gemacht und andere politische Kräfte beteiligt würden. «Solche Signale in der Anfangsphase zu senden, ist wichtig, damit Vertrauen gewonnen wird», sagt er. Es komme zudem darauf an, dass bald eine neue Verfassung geschrieben werde.
Allerdings wurde das im ersten Übergangskabinett, das wenige Tage nach dem Sturz Assads gebildet wurde, noch nicht berücksichtigt. Es entspricht im Wesentlichen der Provinzregierung, welche die HTS in Idlib geführt hatte. Die Macht wurde zwar symbolisch vom alten Ministerpräsidenten gewaltlos übergeben, ein nicht unwichtiges Zeichen der Legitimität. Doch de facto wird Syrien jetzt von der Islamistenmiliz regiert.
Und Islamisten handeln in der Regel auf Grundlage ihrer konservativen Ideologie. Dabei gibt es zwar deutliche Unterschiede zwischen moderaten und radikalen Auslegungen; in der Regel sind sie aber kaum mit liberalen Werten in Einklang zu bringen. Frauen haben in diesem Weltbild nicht dieselben Rechte und müssen sich diskriminierenden Vorschriften und rechtlichen Benachteiligungen unterwerfen; andere Religionsgruppen, inklusive mancher islamischer Strömungen, werden als «Ungläubige» angesehen und diskriminiert oder gar verfolgt.
Warnungen, die HTS wolle jetzt die «Scharia einführen», sind schon insofern unsinnig, als diese in Syrien längst als wichtigste Rechtsquelle gilt – genauso wie in vielen anderen Staaten der Region. Die zentrale Frage ist aber, wie diese ausgelegt wird und inwiefern Islamisten wie Al-Schara und seine Mitstreiter bereit sind, Kompromisse einzugehen. Im sogenannten Arabischen Frühling ab 2011 gab es mit Blick darauf unterschiedliche Erfahrungen. In Ägypten beschnitt der frei gewählte islamistische Präsident Mohammed Mursi zum Entsetzen der Liberalen nach und nach freiheitliche Rechte. Es folgten der Putsch von Al-Sisi und die Rückkehr zur Diktatur. In Tunesien verhielt sich die populäre islamistische Nahda-Partei deutlich moderater, und doch wurde auch sie schließlich durch den heutigen autoritären Präsidenten, Kais Saied, verdrängt, wodurch eine außerordentlich hoffnungsvolle demokratische Periode zu Ende ging.
Damit in Syrien nicht Ähnliches geschieht oder neue Konfliktlinien aufbrechen, muss möglichst bald ein inklusiver politischer Prozess beginnen. Dessen Gelingen erfordert auch eine finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau wirtschaftlicher und politischer Strukturen. Statt wie in Deutschland in zynischer Weise über die verfrühte Rückführung syrischer Flüchtlinge zu debattieren, sollte die internationale Gemeinschaft dazu beitragen, die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wiederaufbau zu begleiten, und Bemühungen unterstützen, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Die internationale Gemeinschaft sollte den diplomatischen Austausch mit den derzeitigen Machthabern sowie weiteren Akteuren unverzüglich intensivieren und ihre Vertretungen im Land wieder öffnen. Sie könnte Al-Schara und die HTS mit ihren Versicherungen, die Rechte aller zu achten, beim Wort nehmen, aber auf Einmischung von außen verzichten – denn die Syrer*innen haben diesen Wandel aus eigener Kraft geschafft. Diese Leistung muss anerkannt werden. Letztlich können nur die Syrer*innen, die sich mutig gegen Assad behauptet haben, diesen Prozess erfolgreich gestalten. Darauf macht auch der syrische Intellektuelle Yassin Al-Haj Saleh aufmerksam: Millionen politisch aktiver Syrer*innen seien der beste Schutz gegen die Übernahme der Revolution durch Extremisten jeglicher Couleur. Schon deshalb gilt es diese Aktivierung zu unterstützen.