Wie viel Krise können wir ertragen?

Unsere Autorin lebte als Kind einige Jahre im Libanon und blieb dem Land seitdem verbunden. Nun beruflich dorthin zurückgekehrt, erlebt sie einen Staat am Abgrund.

Ma fi kahraba – es gibt keinen Strom. Das ist der erste arabische Satz, den mein Sohn lernt, als wir in Ras Beirut durch den regnerischen Februar stolpern. Dunkel ist es überall, man will das Licht anknipsen, um endlich richtig zu sehen, schon aus Angst, in eines der kratergroßen Schlaglöcher zu stürzen. Ras Beirut mit Hamra war einst der weltoffenste Stadtteil von Beirut. Hier trafen sich in den Sechzigern Journalist:innen und Künstler:innen aller Couleur und Konfessionszugehörigkeiten. Auch nach 1975, während der vielen Jahre des Bürgerkriegs, blieb das Viertel seiner Offenheit treu, nirgendwo sonst haben Muslim:innen und Christ:innen in dieser Zeit Tür an Tür gelebt. Daher zieht es mich hierhin, als ich 2022 für einen neuen Job zurück ins Land komme, auch wenn die Gegend sich heute verändert hat. Schmuddeliger ist es geworden, noch mehr Bettler:innen als früher sind auf den Straßen, die wirtschaftliche Not ist überall spürbar.

Noch in Deutschland wurde mir gesagt, das Land habe sich verändert, seitdem ich 2018 das letzte Mal länger da gewesen war. Kriminalität nehme zu. "Fahr nicht mehr mit offenen Fenstern und Handtasche auf dem Beifahrersitz" wurde ich gewarnt. Gelegentlich hört man von Raubüberfällen und niemand, den ich kenne, fährt mehr im Sammeltaxi durch Beirut. "Sind die Straßen heute so leer, weil Feiertag ist?", frage ich meinen Taxifahrer. Er lacht, "hier ist gerade immer Feiertag" und spielt auf das Land im Ausnahmezustand an.

Eigentlich funktioniert nichts mehr. Jahrzehntelange Misswirtschaft und Korruption haben das Land und seine Menschen in den Abgrund getrieben. Der Zusammenbruch war schon lange vorausgesagt, die politische Elite hat ihre Pfründe außer Landes gesichert, während der Kollaps des Bankensystems den Großteil der Bevölkerung ausgeblutet hat. Durch den Währungsverfall haben viele Menschen all ihr angespartes Vermögen verloren. Auch diejenigen, die in US-Dollar ihr Geld angelegt haben, kommen durch die Kapitalkontrolle der Banken nicht mehr an ihr Vermögen oder das, was davon übrig ist.

Die Verzweiflung führt die Menschen zu grotesken Aktionen: Erst vor ein paar Wochen hat ein Mann im Stadtteil Hamra eine Bank überfallen und Geiseln genommen – um sein eigenes hart Erspartes herauszupressen. Er benötigte sein Geld, um die hohen Krankenhausrechnungen seines Vaters zu bezahlen. Seine Tat findet immer mehr Nachahmer:innen. Die Banken reagieren mit Schließungen aus Angst vor weiteren Überfällen. Mein Cousin hat früher bei der Armee etwa 1.700 US-Dollar verdient, heute muss er mit umgerechnet 200 US-Dollar seine Familie ernähren. In einigen staatlichen Schulen gehen die Kinder nur noch drei Tage in die Schule, da die Eltern sich das Benzin für den Schulweg nicht mehr leisten können. Viele Familien kommen nur über die Runden, weil sie ein Familienmitglied im Ausland haben, das sie unterstützt.

Die Elite des Landes, unterstützt von externen Akteur:innen, hat sich nicht um das Gemeinwohl geschert. Die Aufarbeitung des Bürgerkriegs (1975–1990) wird ausschließlich von Nichtregierungsorganisationen in den Blick genommen. Jede Konfession hat ihre eigene Auslegung der Geschichte, und so verwundert es nicht, dass es bis heute in den Schulen kein offizielles libanesisches Geschichtsbuch über den Krieg gibt. Stattdessen wurde nach Beendigung des Bürgerkriegs eine Generalamnestie für alle Kriegsherren erlassen. Und fast alle wurden in staatliche Ämter übernommen, die sie zum Teil bis heute bekleiden, mittlerweile mit grauen Haaren und ein paar Falten mehr.

Das Klima der Straflosigkeit bleibt bestehen: Attentate, wie das 2005 auf den damaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri oder die Ermordung syrienkritischer Journalist:innen in den Folgejahren, wurden nie aufgeklärt. Genauso wenig wie der Mord an Lokman Slim, einem Hisbollahkritiker, der Anfang 2020 umgebracht wurde. Oder die Verantwortung von Regierungsmitgliedern im Zusammenhang mit der Detonation von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat am 4. August 2020, das neben den Getreidesilos am Hafen gelagert worden war. Die Explosion hat weit über 200 Menschenleben gekostet, die weitreichende Zerstörung der Stadt verursacht und die Beiruter Bevölkerung traumatisiert. Als ich neulich mit einer Bekannten im Restaurant sitze, springt sie plötzlich schreiend von ihrem Stuhl, als ein Windzug das Fenster aufdrückt. In ihrem Körper hat sich die Druckwelle eingeschrieben, die bei der Explosion über die Stadt fegte.

Wirtschaftskrise, politische Dauerkrise, Explosion, Corona und Auswirkungen des Ukraine-Kriegs. Kann es noch schlimmer kommen oder sind wir bereits am Boden angekommen? Das fragen sich viele Menschen. Wer kann, verlässt das Land. Als wir nach den Ferien im Sommer wieder nach Beirut zurückkehren, ist nirgends mehr Brot zu finden. Dabei ist Brot in der aktuellen Krise für viele Menschen, die sich kaum mehr leisten können, noch wichtiger geworden. Die Getreidesilos sind zerstört und so kann nicht, wie früher, bis zu vier Monate lang Getreide gelagert werden. Alternativen sind immer noch nicht in Sicht. Das Land ist vom Import abhängig, auch das Ergebnis einer falschen Politik. Ziemlich genau zwei Jahre nach der Explosion stürzen noch immer stehende Teile der brennenden Silos ein. Die Luft in Beirut ist geschwängert von toxischem Rauch.

Als Kind habe ich ein paar Jahre hier gelebt, vor dem Bürgerkrieg. Für mich war es damals Freiheit und Paradies: vor dem Haus das Meer, dahinter die Berge, in den Hausfluren sind wir Rollschuh gefahren. Internationalität war für mich normal. Dass diese Normalität trügerisch war, wurde mir erst bewusst, als wir Ende des ersten Kriegsjahres 1975 zu meiner Großmutter nach Süddeutschland flohen, wo die Hecken mit dem Geodreieck geschnitten schienen und unser Nachbar mit dem Besen auf den Boden klopfte, weil er uns Kinder als zu laut empfand. Alle sprachen nur Schwäbisch, und ich habe nichts verstanden. Meine Mutter mit ihrem Gerechtigkeitssinn hatte im Libanon mit ganz anderen Strukturen gehadert, mit dem schier unermesslichen Reichtum einiger Weniger und mit der Armut der Vielen. Ihre Fotos aus den Siebzigerjahren zeigen prunkvolle Villen und in direkter Nachbarschaft große Armut oder riesige Müllhaufen, die in den Himmel ragen.

Mich hat der Libanon mit all seinen Widersprüchen nicht losgelassen. Im Jahr 2000 packten mein Mann und ich unsere Koffer und zogen wieder hin. Meine Kinder sind im Libanon geboren und fühlen sich dem Land verbunden. Mein ältester Sohn wirft mir vor, ihm die Sprache nicht beigebracht zu haben. Wenn er heute in Berlin auf Arabisch angesprochen wird und nichts versteht, fühlt er sich, als würde etwas fehlen, das eigentlich da sein müsste. Als Mutter fand ich die Jahre mit kleinen Kindern im Libanon schwierig, kein öffentlicher Raum, alles findet privat statt. Meine deutschen Vorstellungen von Aktivitäten mit kleinen Kindern liefen hier ins Leere. Es war eine einsame Zeit. Dazu kamen die Ermordung Hariris, weitere Autobomben und schließlich der Krieg 2006. Wir packten wieder unserer Koffer und zogen mit drei kleinen Kindern nach Berlin.

Als ich die Chance bekam, wieder im Libanon zu arbeiten, zögerte ich zunächst angesichts der verzweifelten Lage des Landes. Aber die Kinder waren begeistert, und ich sah die Chance, mich als Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung für mehr soziale Gerechtigkeit in der Region zu engagieren. Mit Partnern vor Ort kann ich Netzwerke stärken, die sich für eine lokale und nachhaltige Lebensmittelproduktion einsetzen und migrantische Hausangestellte bei ihren Forderungen nach mehr Rechten unterstützen. "Die Menschen hier sind sozial intelligenter", stellte meine 15-jährige Tochter schon nach ein paar Tagen fest. Man wird anders angeschaut, und alle begegnen uns freundlich, trotz der eigenen ausweglos scheinenden Situation.

Vor ein paar Jahren noch schien plötzlich Veränderung möglich. Die Menschen gingen auf die Straße, um gegen das konfessionelle Patronage-System zu demonstrieren. In diesem System erkaufen sich die politischen Führer der christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften, die gemäß der konfessionellen Parität seit dem Bürgerkrieg gleichstark im Parlament vertreten sein müssen, die Loyalität ihrer Klientel, indem sie deren sozial-ökonomische Versorgung versprechen. Die Oktoberrevolution von 2019, wie sie genannt wird, ist nicht vorbei, aber durch die Versorgungskrise ist ihr erst mal der Wind aus den Segeln genommen.

Widerstand regt sich derzeit nur im Kleinen. Die Menschen kämpfen gemeinsam ums Überleben, bepflanzen Gärten, um unabhängiger von den steigenden Lebensmittelpreisen zu werden. Häuserkomitees bilden sich, um eine bessere Stromversorgung zu erwirken und gegenseitige Unterstützung zu leisten. Im Libanon war man schon immer kreativ, da auf den Staat kein Verlass war. Viele sehen aber nun, dass das politische System reformiert werden muss. Immerhin sind seit den Parlamentswahlen im Mai 13 von 128 Abgeordneten unabhängig von den großen Konfessionen.

Es ist schwer, nicht die Hoffnung zu verlieren. Am 23. September ist vor der Küste der syrischen Stadt Tartus ein Boot gesunken, das in Tripoli, einer Stadt im Norden des Libanon, abgelegt hatte. An Bord waren Libanes:innen sowie syrische und palästinensische Geflüchtete, die im Libanon lebten. Fast 100 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, sind ertrunken. Es ist das größte Bootsunglück in der Geschichte des Libanon.

Als ich heute Morgen im Auto durch die Radioprogramme zappe, bleibe ich bei einer Sendung des "Lubnan hurr" (Freier Libanon) hängen. Der Moderator befragt Anrufer:innen, wie es ihnen gelingt, in diesen schweren Zeiten zu überleben. Ein männlicher Anrufer schaltet sich dazu: "Es wird wieder einen Krieg geben." Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt.